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Der tägliche Wahnsinn im Wartezimmer eines Arztes

Im Dezember erschien ein Artikel über mein Buch im Hamburg Abendblatt


 

Es war eine hysterische Hamburger Mutter, die den Bergedorfer Orthopäden Dr. Matthias Soyka zum Titel seines Buches inspirierte. „Wahnsinn Wartezeit“ heißt es. Und es sollte eigentlich nur die für Patienten wie Ärzte leidvollen Absurditäten unseres Gesundheitssystems auflisten. Herausgekommen ist aber nicht nur ein verständliches Werk mit allerlei Zahlen, Studien und Impressionen aus dem Leben eines modernen Heilers. Soyka hat auch einer realen Patientin und ihren drei ungezogenen Kindern einen – erfundenen – Namen gegeben, der an eine deutsche Gewerkschafterin erinnert, die man früher „Quengelen-Keifer“ nannte. Als eine solche Furie in Soykas Praxis entpuppte sich Frau „Lautsprecher-Schrullenberger“. Soyka schreibt, sie sei „geradezu klischeehaft der Typ der überprotektiven, komplizierten, ökologisch korrekten und veganen Cappuccino-Mutter“. Diese Mutti brachte Soykas Praxis mehrfach in Aufruhr. Und auch sie ist ein Produkt des Systems.

 

So mündet das ernste und politisch angeheizte Thema des Wartens auf und bei einem Arzttermin in eine anregende Lektüre. Dabei bemüht Soyka nicht mal literarische Talente. Vergleichsweise nüchtern, mit einem Füllhorn an Zahlen und Quellen fundiert, legt der Doktor das Wesen des Wartens frei. Die meisten gesetzlich Versicherten warten nicht über Gebühr lange auf einen Termin, zitiert er Studien. Im internationalen Vergleich seien wir Deutschen da ohnehin privilegiert und an einen „Luxus“ der Facharztversorgung gewöhnt.

 

Das klingt schon fast wie Patientenbeschimpfung, aber daran ist Soyka nicht gelegen. Er will auch nicht provozieren wie die notorischen Lobbyisten oder ein Teil der Politiker, die Patienten und Wähler gerne gegen Ärzte aufhetzen. Natürlich kriegt Prof. Dr. med. Karl Lauterbach (SPD) sein Fett weg, dessen einzige Sprechstunde „seine Abgeordneten-Sprechstunde ist“.

 

Aber vor allem feuert Soyka Argumente ab. Zum Beispiel würden die neuen, gesetzlich verordneten Terminservicestellen (TSS) das Warten überhaupt nicht verkürzen. Die Patienten nähmen sie auch nicht an, weil sie irgendeinen Arzt wollen, sondern „ihren“ Doktor. Darüber hatte auch das Abendblatt berichtet. Soyka schreibt, dass die Ärzte diese Servicestellen aus ihren Budgets bezahlen müssen und dass sie die Wartezeiten sogar verlängern. Denn nun müssen die Ärzte Behandlungszeiten freihalten, es könnte ja ein Patient über die Servicestelle vermittelt werden – eine „gesetzlich vorgeschriebene Luftbuchung“. Von Notfällen, die das Warten verlängern, ganz zu schweigen.

Ebenso das sogenannte „Versorgungsstärkungsgesetz“: Es führe dazu, dass sich immer weniger Ärzte niederlassen wollen, ein Widerspruch zum Namen. Das wirtschaftliche Risiko sei vielen zu groß. Ein Oberarzt mit 146.000 Euro pro Jahr überlege sich den Schritt aus der Klinik in die Praxis sehr genau. Obwohl mehr Geld für ärztliche Behandlung ausgegeben werde, komme weniger als vor zehn Jahren bei den Ärzten an. Das belegt Soyka mit Statistiken der kassenärztlichen Vereinigungen. Weniger Ärzte heißt wieder: längeres Warten.

 

Früher wurde bei Hexenschuss kein Arzt hinzugezogen, sondern wieder das ABC-Pflaster aufgeklebt

Er beklagt außerdem die wachsende Bürokratie, den Schriftwechsel mit den Krankenkassen und die bizarren Auswüchse des Codierens von Krankheiten. So habe er die Möglichkeit, acht verschiedene ICD-Codes aufzuschreiben für eine Arthrose am kleinen Daumensattelgelenk an der Hand. Das alles, um „Schiedsrichter“ für die Krankenkassen zu spielen. Denn je nachdem wie Soyka codiert, erhalten die Kassen mehr oder weniger Geld aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Und bisweilen drängen Kassen die Ärzte sogar zum Dramatisieren, wie das Abendblatt berichtete und die Hamburger Staatsanwaltschaft derzeit ermittelt.

 

Mehr Bürokratie bedeutet: weniger Zeit für Patienten. Schon wenn er als Orthopäde eine Physiotherapie verordnet, muss der Arzt das gut begründen. Er kann auch in Regress genommen werden, falls er zu viel verschreibt. Und wo ist der Anreiz, mehr Patienten zu behandeln? Den gibt es nicht, denn das Budget ist gedeckelt. Viele Leistungen werden überhaupt nicht bezahlt. Die Experten nicken, die Patienten werden staunen, wenn sie dieses Buch lesen.

Die private Krankenversicherung verteidigt Soyka nicht ausdrücklich. Aber vor dem Weg in eine Bürgerversicherung à la SPD warnt er. Dabei will er nicht meckern, weil er genügend Privatversicherte behandelt. Doch eine Einheitsversicherung würde nach seiner Vorstellung „zu englischen oder griechischen Verhältnissen“ führen.

Etwas Stichelei hat Soyka aber auch im Köcher. Da wäre zum Beispiel der „Lumbago“. Was klingt, wie ein karibischer Tanz, ist der als „Hexenschuss“ bekannte Mega-Schmerz im Rücken. Wo man früher ein ABC-Pflaster draufklebte, muss heute die körperumfassende Segnung moderner Medizin wirken. Soyka sagt, man müsse bei Hexenschuss nicht mal einen Arzt aufsuchen. Ein paar Übungen (auf seiner Internetseite), im Zweifel ein Schmerzmittel – und in ein paar Tagen sei das Thema gegessen. Nun ja: Würde es schlimmer, müsse man eben zum Arzt. Bei einem realistischeren Schmerzempfinden hätten die Ärzte auch wieder mehr Zeit für die wirklich schweren Fälle, meint Soyka.

 

Diese Ansage wäre natürlich nicht geeignet, den Praxis-Terror von Frau Lautsprecher-Schrullenberger zu befrieden. Die Patientin brülle die Mitarbeiter regelmäßig zusammen, weil sie so lange warten müsse. Kurzvorträge zum Thema Praxisorganisation hält sie offenbar auch gerne. Und das Pilates-Training werde sie auch verpassen. Frau Lautsprecher-Schrullenberger vereinbare bisweilen Termine für ihre drei Kinder und erscheine dann gar nicht. An einem anderen Tag wollte die Dame selbst bei einem Verdacht auf einen Armbruch eines jammernden Kindes über den Sinn des Röntgens diskutieren. Und da sie ja nun schon mal da sei mit ihren Kindern, könne der Doktor doch auch „mal eben“…

 

Der „Wahnsinn Wartezeit“ hat irre viele Facetten.